Prolog - Der Ungläubige und das Geschenk des Kalifen
Die Sonne brannte heiß glühend auf die Stadt inmitten der Wüste.
Der Palast des Herrschers stand strahlend weiß in der sengenden Mittagshitze; groß, mächtig, erhaben. Auf dem davor befindlichen Paradeplatz hatte sich eine immer größer werdende Traube von Schaulustigen gebildet, die über die letzte halbe Stunde auf einige hundert Männer, Frauen und Kinder angeschwollen war. Nach einer gefühlten und unruhig tuschelnden Ewigkeit kam endlich Bewegung in die statische Szenerie des Palastes.
Die riesigen goldbeschlagenen Tore schwangen quälend langsam und dem Anlass fast schon unangebracht bedächtig auf. Dahinter öffnete sich ein schwarzes Loch, welches das Licht der hoch am Himmel stehenden Sonne schlucken zu schien wie ein Verdurstender die ersten Züge klares Gletscherwasser.
Eine zum Bersten gespannte Stille hatte sich schlagartig über den Palastplatz gleich einem herabfallenden Leichentuch ausgebreitet.
Dann taumelte eine Gestalt langsam in das Blickfeld der wartenden Menge. Sie stolperte heraus aus der Dunkelheit zurück ins Licht. Ihre Kleidung war durchnässt und klebte an etlichen Stellen an Armen und Beinen an der Haut. Die weiße Leinenschürze war getränkt von Schweiß und gefärbt von immer noch frischem, rotem Blut. Die blonden Haare hingen strähnig herab und waren ebenfalls mit Blut und wohl auch noch manch anderen Flüssigkeiten in Berührung gekommen. Am Hals war deutlich oberhalb des Kehlkopfes ein roter Striemen zu erkennen; die dort zutage getretene Blutung war zwischenzeitlich versiegt und die dünne Wunde hatte bereits zu verkrusten begonnen. Der ohnehin schon ungewöhnlich hellen Haut des Mannes war durch den seit einigen Tagen unrasierten Bart eine deutliche Blässe anzumerken.
Vorwärts stolpernd schien ihm das Atmen schwer zu fallen. In dem Moment, als sie die Berührung der ersten Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht zu spüren schien, tastete die Gestalt nach der schwarzen Augenbinde, die ihr um den Kopf gebunden war. Die Finger schafften es trotz des augenscheinlich angeschlagenen Zustandes, in welchem sich der Fremde befand, unter den Rand der dunklen Seide und zogen diese mit einer Mühe und Langsamkeit nach oben, die ihrem jugendlichen Alter nicht würdig zu sein schien.
Der Mann blinzelte zittrig und kniff die Lider zusammen. Offensichtlich hatte er lange Zeit kein Tageslicht oder auch sonst etwas anderes gesehen als die tiefe Schwärze hinter dem festen Griff des hauchzarten und doch undurchdringlichen Vorhanges vor seinen Augen. Er schien keinen Blick für die wartende Menge zu haben; kein Wort für die offenen Münder; für das entsetzte Erstaunen in ihren Blicken; keine Antworten für die unausgesprochenen und doch herausgeschrienen Fragen; keine Luft für so viel angehaltenen Atem.
Niemand hatte erwartet, dass der Mann den Palast lebend verlassen würde.
Zwei weitere unsichere Schritte seiner nackten Füße auf dem glühenden Stein vor den Palasttoren, dann hallten schwere Stiefelschritte durch den Gang. Ihnen folgten zwei Leibgardisten des Herrschers in prunkvoller, messingbeschlagener Rüstung mit edelsteinbesetzten Säbeln an ihren Seiten und Helmen an denen kleine Glöckchen baumelten und die Rosshaarschweife in ihrem seidigen Tanz mit heller Musik begleiteten. Die Menge schwieg noch immer; starr vor Schock und angefüllt mit ungläubigem Erwarten, harrend dem Urteil, das nun verkündet werden würde. Das verkündet werden musste. Was dem Ungläubigen an Vorhaben nachgesagt wurde, hatte an Wahnsinn gegrenzt. Niemand konnte glauben, was auf den Straßen der Stadt geflüstert wurde. Niemand.
Die Ereignisse hatten sich überschlagen die letzten Stunden. Was jeder glaubte, was jeder wusste, weil es wahr sein musste war, dass die erste Gemahlin des Kalifen nach all den Jahren, in denen sie ihm kein Kind hatte schenken können, schlussendlich doch noch die Frucht seines Leibes in sich trug; dass das Kalifat vielleicht doch den Erben bekommen würde, nach dem es sich schon so lange verzehrte; dass Jahren der sich steigernden Unruhe und den immer weiter voranschreitenden Anzeichen von Zerfall – ja sogar Umsturz – doch Einhalt geboten werden konnte; dass der Kalif am Ende doch über die Ambitionierten und Fürsorglichen, die Zweifelnden und Mahnenden, die Madlis und Adligen, die Lauernden und Wartenden (im Offenen wie Verborgenen) und die ältesten Freunde und treuesten Untergebenen, dass er über all diese und all die anderen erhaben sein würde.
Doch dann hatte sich binnen Stunden alles zum Schlechten gewendet. Wenige Tage vor der errechneten Niederkunft so sagten es die Eingeweihten, hätten die Hebammen erkannt, dass das Kind nicht richtig läge; dass eine Geburt vielleicht eine Gefahr darstellen könnte; darstellen werde; für das Leben der Mutter und das Leben des Kindes.
Der Kalif hatte seine Ärzte kommen lassen, aber diese konnten ihm keine anderen Erkenntnisse übermitteln. In den letzten Tagen so sagte man, habe sich der Zustand der ersten Gemahlin dramatisch verschlechtert. Der Kalif, so sagte man außerdem, liebe seine Frau. Und auch wenn klar war, dass das Kind von größerer Bedeutung war, so musste es trotzdem doch noch immer geboren werden.
Der Herrscher befahl seinen Ärzten, eine Lösung zu finden, doch wie jedermann wusste, gab es für derlei Situationen keine Lösung, die Mutter und Kind am Leben erhielten. Der Kalif wusste um die Bedeutung dieser Wahrheit und es hieß, Raserei habe ihn befallen. Er ließ seinen Leibarzt enthaupten und die Älteste der Hebammen im Palastbrunnen ertränken.
Als die Not am größten war und die aussichtlose Geburt bereits begonnen hatte, hatte man einen Heiler aus den Barbarenlanden im hohen Norden von seinem Stand am Markt zum Palast zerren lassen. Er, so munkelten einige im Verborgenen, habe heilende Hände und sei versierter im Behandeln von Brüchen, im Reißen von Zähnen und der Linderung von Fiber als die meisten einheimischen Bader, Barbiere und sogar Medici und Ärzte.
Es war klar, dass dieser Ungläubige nicht würde vollbringen können, was die Leibärzte des Kalifen nicht vermochten. Doch erkläre einer dem Ertrinkenden, dass ihn auch der ersehnte Strohhalm nicht retten werde. Das einzige, wessen sich der Barbar sich sein konnte war, dass er sein Leben, mindestens aber sein Augenlicht verlieren würde. Denn kein Mann, so wollte es das Gesetz, durfte eine Frau des Kalifen unverschleiert sehen. Ganz zu schweigen von dem, was eine Hebamme bei der Geburt eines Kindes zu sehen bekam.
Doch was sich dann zugetragen haben soll, war einfach undenkbar. Ungeheuerlich. Schlichtweg unmöglich.
Der Nordmann soll dem Großvisier des Kalifen gegenüber gestanden und sich bereit erklärt haben, sowohl Kind als auch Mutter zu retten. In den blumigsten Worten habe er dem ersten Beamten erklärt, zu welchen Dingen er in der Lage sei und aber auch deutlich gemacht, dass er nicht gewillt sei, sein Augenlicht zu lassen.
Als der Großvisier nur gelacht und gefragt habe, ob er denn lieber sein Leben, denn sein Augenlicht geben wolle, habe der Ungläubige nur gelächelt und geantwortet, es würde sich doch wohl ein Streifen schwarzen Stoffes im Palast finden.
Der Großvisier habe erst noch schallender gelacht, so sagt man; aber dann, als ihm klar wurde, dass der Ungläubige von seinem Vorschlag nicht ablassen würde, sei ihm ein Frösteln kälter als Eis in Mark und Bein gefahren. Denn der Kalif habe auch sein Leben, also das des Großvisiers, an das Leben seiner Frau und seines ungeborenen Kindes gebunden, berichteten angeblich die Walis…
Ein dumpfes Geräusch riss die Menge aus ihren Gedanken. Einer der Leibgardisten hatte eine schwere Ledertasche neben den trotz des Sonnenlichts und der Hitze des Tages fröstelnden Mann geworfen.
Die Stimme des andern Leibgardisten verkündete:
“Der Ungläubige ist in die Stallungen des Kalifen zu führen. Dort möge er sich ein Pferd aus der Zucht des Kalifen aussuchen welches ihm beliebe außer dem Pferd des Kalifen selbst. Darüber hinaus soll er mit Wasser und Proviant versorgt und ihm ein erfahrener Karawanenführer anbei gestellt werden. Bis zum Morgengrauen muss er die Stadt verlassen haben. Er soll drei Mal noch während seiner Zeit unter der Sonne diese Stadt betreten dürfen. Drei Mal wird der Kalif ihn empfangen und mit einer Bitte hören. Drei Mal soll ihm ein Wunsch gewährt werden, so es Rastullah gefällt. Sollte der Ungläubige ein viertes Mal die Tore der Stadt durchschreiten, so möge seine Zeit unter der Sonne vorüber sein und die ewige Nacht über ihn hereinbrechen.
Dies ist das Urteil, welches seine Erhabenheit über den Fremden unter Abwägung seiner Taten und Verfehlungen gesprochen hat.
Und nun, zerstreut euch!”
Nichts geschah.
Der Gardist trat einen schnellen Schritt nach vorn, wobei seine Glöckchen die Bewegung seltsam fröhlich ankündigten:
“Zerstreut euch!” rief er mit lauter, befehlsgewohnter Stimme, die durch die Schockstarre einiger weniger hindurch drang, die sich auch sofort in Bewegung setzten. Dies rüttelte auch die Übrigen wach und die Menge tat wie ihr geheißen, verstreute sich über die Straßen und Plätz der Stadt; und verbreitete schneller als der Wüstenwind die Geschichte über den Ungläubigen und das Geschenk des Kalifen.